#7602
Maria
Administrator

    Lieber Stefan, liebe Leser,

    du sprichst viele gute Themen an, von denen ich vorhabe, das eine oder andere als Forumsthema anzubieten. Sei es der Selbstschutz, die Frage der Entwicklung und immer wieder die Frage nach der Liebesfähigkeit des Menschen.

    Zunächst zu deiner Aussage “So denke ich mir immer öfter, Mensch, wäre ich in dessen Lage, hätte ich dessen Vorgeschichte (welche ich ja oft gar nicht kenne), würde ich dann möglicherweise genauso handeln?” Sich solche Fragen zu stellen halte ich für sehr wertvoll. Sich in einen anderen einfühlen und Empathie entwickeln sind tatsächlich tiefere seelische Errungenschaften und sie geschehen sicher in unserer Zeit viel zu wenig oder sind zu wenig vorhanden.

    In der Frage, ob ein geschädigter und betroffener Mensche verzeihen oder vergeben “muss” sind wir vielleicht nicht so weit auseinander. Von “müssen” sollte in meinen Augen nicht die Rede sein und ich kann die Argumentation der einen Betroffenen in dem obig verlinkten Artikel, sie heißt Romy Kämper (der Name ist wahrscheinlich geändert, nur damit ihr wisst, wen ich meine) gut nachvollziehen. Ihr fehlt ein Zugehen von Täterseite aus, ein Gespräch, ein kleinstes Anzeichen einer Bereitschaft und so kommt sie sinngemäß zu dem Schluss: Ich habe überlebt, ich habe es geschafft, eine Therapie durchzugehen und mich selbst in einem Beruf zu gründen. Ein Vergeben oder Verzeihen gegenüber den sich versteckenden und uneinsichtigen Tätern (hier Ordensfrauen) will und braucht sie nicht. Das ist auch eine Haltung.

    Aber, wie gesagt, die Entwicklungsfrage ist sehr wichtig. Du deutest sie in deiner Antwort ja auch an. Kann ich mich weiterentwickeln, will ich mich weiterentwickeln? Der Artikel heißt ja auch “Wenn die Zeit nicht alle Wunden heilt.” Also abwarten allein ist keine Lösung. Vorwärtsschreiten und den Mut zu neuen Handlungen und Perspektiven, was man im Leben machen will, wirkt meiner Erfahrung nach immer heilend, lösend und ist ein weiterer Schritt in Richtung eines freier werdenden Menschen.

    Ein recht persônliches Erlebnis will ich noch berichten. Am Sterbebett meines Vaters war es mir ein großes Anliegen in etwa die Worte zu sprechen – “Gleich was war, wenn wir auch viele Konflikte hatten …, das alles ist unwichtig und vorbei, das soll niemals zwischen dir und mir stehen.” Es ist das Sterben so ein unumstößlich erhabener Moment, wo eine Unterscheidung stattfindet, was wirklich wichtig ist im Leben, im Sterben und wie ich denke auch im Leben nach dem Tod.

    Deine Feststellung, dass du, wenn du es schaffst, einen Menschen nicht zu verurteilen, dann klar im Geiste bleibst, so dass du ruhig reagieren kannst, finde ich schön und klar. Das ist sicher auch eine ziemliche Arbeit an sich selbst.

    Mit herzlichem Gruß, Maria