Lieber Stefan, liebe Leser,
es ist für mich schon nachempfindbar, dass dir das Nicht-Urteilen über Menschen sehr am Herzen liegt. Ganz sicher geschehen da oft gewaltsame Eingriffe und der oberflächliche und vorschnelle Urteiler schadet sich selbst sogar noch dabei. Ja, Urteilen und zu schnelle und vor allem nicht konstruktive Kritik am Mitmenschen ist ein Übel, das muss man schon so sehen.
Ich versuche die Frage mal so anzugehen: Ab dem Moment, wenn ein Mensch sich eine Anschauung zu etwas oder auch zu einem Menschen bildet und dabei dessen Entwicklung im Sinn hat und Zusammenhänge verstehen will, immer aber im Sinne eines Aufbaus, ab dem Moment, wo ein Mensch nicht nur Werte dieser physischen Welt, sondern auch seelische und geistige, unvergängliche Werte erstrebt, wenn ich es mit deinen Worten sage – wo er sich über Saat und Ernte bewusst ist – wird er nicht vorschnell urteilen und verurteilen. Ich denke aber, er wird auch einen anderen Menschen objektiv erforschen wollen und ihn fördern wollen, indem er sich so tief wie möglich in ihn hineinversetzt, seine Beweggründe verstehen will, seine Entwicklung im Auge hat.
Eine Person, die den Beruf des Richters wählt, hat in meinen Augen eine sehr große Verantwortung und sollte fachlich wie menschlich sehr gut ausgebildet sein und an sich arbeiten. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich denke, dass es auf den verschiedenen Ebenen eben schon ein klares Beurteilen braucht, bei einer Straftat beispielsweise gibt es eben das weltliche Gericht und weltliche Gesetze, die nicht unbedingt schlecht sind. Es werden so klare Verhältnisse im Irdischen geschaffen. Ich habe schon Berichte gelesen und gehört, wo ein Straftäter durchaus mit seiner Bestrafung einverstanden ist, und das würde ich tatsächlich als positiv sehen. Als einen Wunsch der Seele, als eine Bereinigung und einen Neuanfang. Dass heute die Gerichte und die Richter – wobei ich schon Gelegenheit hatte, auch sehr gute Richter kennenzulernen – auch korrumpiert sein können, das ist mir klar. Und das ist auch tragisch. Denn der Bürger in unserer Gesellschaft bräuchte mit einem funktionierenden, objektiven und ehrwûrdigen Rechtswesen die Basis und die Hoffnung auf gerechte Entscheidungen, gewissermaßen auf ordnende, ethisch fundierte Prozesse im menschlichen Zusammenleben.
Meine Frage an dich ist, denkst du, dass es auch solche Abwägungen und Beurteilungen, die wirklich viele Seiten des Menschen und seiner Handlungen mit ins Auge fassen, in unserer Gesellschaft nicht bräuchte? Wie würde für dich ein ideales Zusammenleben aussehen?
Und noch etwas: An mir persönlich kann ich feststellen, dass kritische Aspekte meiner Person mir selbst ja nicht mal ganz klar sind, ich sie gar nicht wirklich sehe oder gar nicht so störend einstufen würde. Wenn in einem guten konstruktiven Sinn eine Freundin oder ein Freund mir diese nahebringt, bin ich schon manches Mal erleichtert und tue mich leichter, da an mir zu arbeiten. Ich glaube deshalb, dass wir eine Kritik in einem konstruktiven Sinn selbst brauchen und auch selbst ausprägen sollten. Und da denke ich mir, dass wenn uns eine Liebe zu den Mitmenschen führt, wir auch durch viel Mühe zu einem “richtigen” Urteil kommen können, das aber nicht verurteilt und niemals absolut ist, sondern bewegt bleibt. Wie geht es dir/euch mit diesen Gedanken?
Liebe Grüße, Maria