#7525
Maria
Administrator

    Lieber Stefan, liebe Leser,

    das finde ich generell sehr gut, wenn ich es schaffe, nicht zu urteilen oder zu verurteilen. Dennoch: Ist es nicht notwendig, eine Sache, ein Phänomen, eine Tat zu beurteilen, damit ich sagen kann, ob sie nützlich oder weniger erstrebenswert ist? So denke ich schon, dass es wichtig ist, Dinge und Verhaltensweisen beurteilen zu können und dass ich mir dazu aber Zeit nehmen muss und sie wahrscheinlich wiederholt betrachten muss.
    Dann, wenn eine schädigende Tat, sagen wir Missbrauch, eine Körperverletzung, ein Betrug, ein Diebstahl geschehen ist, der den Geschädigten schwer verletzt und beeinträchtigt, dann kann man schon sagen, “Ich urteile und verurteile den Täter nicht”, aber was geschieht mit dem Betroffenen? Dieser findet eventuell aus dieser Schädigung nur schwer heraus – es ist ja ein bekanntes Phänomen z.B. dass Frauen nach einer Vergewaltigung das Schuldgefûhl, dass der Täter haben müsste, bei sich tragen – und ich finde, es kann angebracht sein, zu dem Ergebnis zu kommen, “Wenn der Täter nicht einsieht, dass er Schaden angerichtet hat, wenn er keinerlei Blick fûr seine Taten hat und einfach weitermacht, ohne sich um eine Wiedergutmachung zu kümmern, dann verhält er sich entgegen den ethischen Regeln eines sozialen Miteinanders, entgegen dem Menschsein.” Dann ist es nach meinem Verständnis wichtig, dass der Geschädigte zu neuen Perspektiven findet und sich vom Täter, von der Täterin distanziert, nicht auch noch in ein gewisses “Nachlaufen” und “Vergeben” kommt, vielleicht weil der Geschädigte sich davon Frieden und Heilung erhofft. Das hat jetzt meines Erachtens nichts mit einem Urteilen und Verurteilen zu tun, sondern mit einer gesunden Aufarbeitung und nötigen neuen Perspektiveentwicklung. Man kann es auch so sehen, dass dadurch dem “Täter” die Möglichkeit gegeben wird, mit seinem Tun selbst konfrontiert zu sein, und eventuell einmal in eine Erkenntnis und Verantwortung zu gehen. Diese nötigen Schritte würden dem Täter sonst einfach abgenommen. So zumindest sehe ich es.
    Ich habe mir einmal Filme angesehen von sogenannten “Hochstaplern”. Es ist erschreckend, mit welcher Freude und mit welchem Stolz sie davon sprechen, wie sie es geschafft haben, andere hereinzulegen, um ihr Eigentum zu bringen etc. Da lebt etwas tatsächlich studierbar Pathologisches in solchen Menschen. Dass letztendlich alle Menschen, auch sogenannte Täter zu einer Entwicklung kommen wollen und sollten, das ist auch mein Anliegen. Nur bedarf es da eben auch eines aktiven Weges und eines Eingeständnisses von Schuld und ein Zur-Veranwortung-Gezogen-Werden. Heilsam ist eine Regung, die wir alle kennen, ich meine ein Reuegefühl, das bewirkt, dass ein Neuanfang möglich ist.

    Was du über die Autofahrer schreibst, die mit 180 an dir vorbeibrettern und allein da schon einen kurzen Schock beim Überholten verursachen, ja, da können wir uns tatsächlich üben, nicht so schnell in den Ärger zu kommen. Da frage ich mich auch jedesmal, warum ich jetzt im Auto laut zu schimpfen beginne.
    Und noch was wollte ich anfügen: Du schreibst vom urteilenden Gott, dass es den doch nicht geben könne, da er ein liebender Gott sei. Und wenn man es so sieht: Ich selbst trage die Anlage zum Göttlichen in mir, ich trage auch die Anlage in mir, mein eigener Richter zu sein. Was geschieht nach dem Tod? Ich habe in verschiedenen tieferen Schriften den Zusammenhang so gelesen, dass nicht eine äußere Autorität und kein Gott den Menschen richtet, sondern die eigene Seele selbst in ihr “Gericht” geht und selbst sieht, wo sie steht, und auch selbst sieht, wie sie in eine Läuterung und Weiterentwicklung kommen will.

    Mit herzlichem Gruß
    Maria