Liebe Leser,
mit dem Thema der Vergebung habe ich mich nun längere Zeit auseinandergesetzt. Zum einen wie es im Neuen Testament beschrieben ist in der oben erwähnten Szene mit Maria Magdalena, dann in Schriften und Meditationsbriefen des spirituellen Lehrers Heinz Grill, in denen er das Phänomen beleuchtet und schließlich auch wie es mir im Bekannten- und Freundeskreis sowie auch filmisch bearbeitet entgegenkommt.
In dieser Auseinandersetzung wird mir klarer, dass Vergebung ein geistiges Geschehen oder eine Art geistiger Akt ist, der dann eintritt, wenn die Haltungen der beteiligten Menschen in einer bestimmten Ausrichtung sind. Sehr ergreifend ist solch eine Erfahrung in der Verfilmung von Tolstois “Krieg und Frieden” unter Regisseur Robert Dornhelm aus dem Jahr 2007 herausgearbeitet. Zwei der Hauptdarsteller, die sich im Laufe der Geschichte zu Erzfeinden entwickeln, Prinz Andrei und Anatol Kuragin, treffen sich als schwerverwundete Soldaten in einem Feldlazarett. Prinz Andrei, dem Kuragin die Braut mit perfiden Mitteln abspenstig gemacht hat, ist nur von einem Gedanken getrieben, nämlich Rache an seinem Feind zu nehmen, sein eigenes Leben ist ihm nichts mehr wert. Die beiden verfeindeten Männer finden sich unter Schmerzen und tödlichen Verwundungen Seite an Seite auf ihren Feldbetten im Lazarett. Als sie sich erkennen, reicht Andrei dem anderen die Hand, dieser stirbt kurz darauf. In Prinz Andrei geht eine unmittelbare Verwandlung vor sich, er ist zutiefst ergriffen, er ist wie hinweggerissen von einer Liebeskraft und Christusbegegnung, die ihm in diesem Moment der Geste des Handreichens zuteil wird. Wenngleich er auch einige Zeit später stirbt, hat er sich von einem strengen Militär, der auf irdische Gerechtigkeit setzte, zu einem ergriffenen und einer übermenschlichen Liebe fähigen Mann gewandelt. In diesem hervorragenden Filmausschnitt wird der Prozess der Vergebung wie ein höheres geistiges Wirken dargestellt.
Mir wird ebenfalls verständlicher, dass die nur gesprochenen oder gedachten Worte, die ein mögliches Opfer zu seinem Täter spricht in dem Sinne “Ich vergebe dir” wenig Kraft beinhalten, und das Verzeihen eben nicht geschieht, weil es höherer Natur ist, wenn nicht beispielsweise der Geschädigte richtig aktiv an neuen Perspektiven arbeitet und sich trotz der Verletzung um Erkenntnisse bemüht. Er scheint ohne diese Arbeit wie in einem Trauma gefangen zu bleiben. Und wie ich schon des öfteren beobachtet habe, wird die Person manchmal auch krank oder geschwächt. Der Täter jedoch baut an Kraft und Vitalität sogar noch auf.
Die Worte des Christus zu Simon, dem Pharisäer, der sich verwundert, dass Christus eine Sünderin zu sich kommen lässt, sind tief nachdenkenswert.
“Deswegen sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Lukas 7,47
Es ist in einem Verhältnis zweier Menschen, von denen einer geschädigt wurde, der andere der Schädiger ist, weniger ausschlaggebend, dass ein solches “äußerliches” Vergeben ausgesprochen wird. Zeigt der Schädiger keine Anzeichen von Reue, von Verantwortung für seine Taten, dann kann es in meinen Augen sinnvoll sein, ihm seine Taten zu sagen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen und, wenn keine Reaktion erfolgt, sich von diesem Menschen zu distanzieren. Wenn gleichzeitig in dem Geschädigten ein Prozess der Weiterentwicklung geschieht, er neue, seelisch tragende Perspektiven für sein Leben und seine Arbeit entwickelt, dann reift – wie ich es verstehe – im Stillen die Kraft eines tiefgreifenden Verzeihens heran. Entwicklung macht diese erst möglich.
Ich finde es in gewisser Weise tragisch, dass heute das Verzeihen fast wie ein gesellschaftliches Muss angesehen wird. Wenn ich verzeihe, bin ich ein guter Mensch, wenn ich nicht verzeihe, bin ich ein schlechter Mensch. Diese Formel ist zu einfach und wenn man sich mit dem Phänomen der Vergebung tiefgründiger beschäftigt, kommt man zur Einsicht, dass sie so nicht stimmt.
Wer Erfahrungen zu diesem Thema hat oder Anmerkungen machen möchte, ich freue mich darüber.
Maria