#6824
Maria
Administrator

    Lieber Stefan,

    was das “Denken” betrifft, das bietet fast Stoff für ein eigenes Forumsthema. Beim “Glauben” habe ich es schon mal angedeutet, da gibt es auch sehr viele unterschiedliche Auffassungen. Eine Frage, warum meinst du, dass “Denken” wichtig bei technischen oder bei naturwissenschaftlichen Aufgaben ist und nicht auch bei allen anderen Tätigkeiten, die wir im Laufe eines Tages vollbringen? Wenn man mal unter einer Depression gelitten hat, dann kommt einem näher, was die Blockade oder Unfähigkeit zu denken bewirkt, so dass kleinste Aufgaben plötzlich nicht mehr machbar erscheinen. Ich könnte auf Anhieb ganz viele Aufgaben nennen, die ein Denken erfordern: Planung eines Kurses, Einkauf, Kochen, Teambesprechungen mit Kollegen, Urlaubsplanung und -gestaltung….

    Zur Nationalität, zur Religion, zum Ideal, das scheint mir schon so zu sein, wie du auch schreibst: Wenn man bei sich bleibt, nicht zum anderen hinübergehen kann, dann sind sie Boden für Konflikte und Unfrieden. Schön, dass du an “Nathan der Weise” erinnerst, es wurde in gleicher Zeit geschrieben, als Schiller lebte, von Lessing. Bei mir war es Schullektüre und ich empfand sie als wertvoll. Die “Ringparabel” bleibt im Gedächtnis, die unbedingte Fähigkeit und Herzensgabe der Toleranz, die Nathan lebt und ausstrahlt und schließlich die Erkenntnis, dass es keine Religion gibt, die allein die richtige und wahre ist. Werde ich bei Gelegenheit mal wieder lesen und mal nachfragen, ob das heute im Deutschunterricht auch noch gelesen wird. Zum Ideal: Bei einem Ideal stehen zu bleiben und nur theoretisch ihm anzuhängen, das hat sicher keine große weitende Wirkung. Nur, wenn ich mir kein Ideal vorstelle – z. B. wie kann ein Schulunterricht aussehen, wie das Fach vermittelt werden, wie die Schüler als auch Lehrkräfte mit Interesse und Elan ihre Arbeit verrichten, was will ich damit erreichen? – wenn ich mir gar keine Gedanken mache, sondern nur den Stoff abspule, dann habe ich auch kein Ideal und bin nicht an der Entwicklung anderer und meiner Person selbst interessiert. Oder wie siehst du das genau mit dem Ideal?

    Ich bin bei dir, dass bei allem was wir lesen, bei Lehrern, bei Heiligen, Eingeweihten wir auf unser innerstes Wahrheitsempfinden achten. Das ist es auch, was Krishnamurti anregt, ihm nicht einfach zu glauben, sondern seine Thesen selbst zu hinterfragen. Jeder ernsthafte spirituelle Lehrer sieht das so. Krishnamurti hatte natürlich kein leichtes Schicksal, weil ihn von Kindesbeinen an andere Menschen zu einer großartigen Person, ja sogar dem wiederinkarnierten Christus hochhoben. Er hat sich dagegen gewehrt und das Ganze hinter sich gelassen und sicher auch aus dieser Erfahrung seine Gedanken zur unbedingten Freiheit des Menschen entwickelt.

    Ich finde jedoch, dass unsere Zeit recht orientierungslos ist. Wo und wie werden uns Werte vermittelt? Manipulationen in den Medien, die gibt es zuhauf, aber richtige Charakterschulung, wo und wie findet die statt? Von dem her interessieren mich die Aussagen von geistigen Lehrern, die aber selbst nachzudenken sind, sonst bleibe ich in einem passiven Anhängertum. Ich glaube, wir haben in dem Punkt etwas verschiedene Vorgehensweisen, die wir ja so stehen lassen können. Lebt alles schon in mir oder brauche ich Anregung von außen für eine weitere Entwicklung, das ist für mich ein wesentlicher Aspekt.

    Und noch was zur Gefahr der “geistigen Verirrung”: Mir hat es imponiert, dass es in Indien keine Reglementierung gibt, welcher Glaubensrichtung ich angehöre, wie ich eine seelische und geistige Entwicklung anstrebe, welchen “Guru” ich wähle. Fast kam es mir so vor im Gespräch mit Indern, dass es für ihre Kultur ungewöhnlich ist, keinen “Guru” (Lichtbringer) zu haben. Es liegt also ganz in meiner Verantwortung, welchen Weg ich wähle, welche Persönlichkeit ich zum Lehrer wähle, ob es ein Erfolg oder Reinfall wird. In Deutschland haben wir leider eine starke Beschränkung, eben keinen Nathan, der weise und tolerant ist, sondern einen Anspruch der Kirche, den aber glücklicherweise immer mehr Menschen erkennen und ablehnen. Uns geistig verirren können wir uns dennoch durch vieles, ich glaube auch durch eine unreflektierte und in meinen Augen oft oberflächliche Esoterik. Deshalb ist mir persönlich wichtig, eine Unterscheidungskraft auszubilden hinsichtlich einer authentischen Spiritualität, die in der Regel immer einen Aufbau, auch einen gesundheitlichen und seelisch hoffonungsvollen für alle Mitmenschen bringt und einer mehr, wie soll ich es sagen, fast eingebildeten oder illusorischen Spiritualität, die uns eher zu noch größeren Egoisten macht und damit, um zum Thema zurückzukommen, auch nicht zu Friedensstiftern.

    Ach ja, mir wûrde es gefallen, wenn in der Schule “Nathan der Weise” direkt als Friedensliteratur durchgenommen und durchgedacht würde. Ich kann ja mal den einen oder anderen Lehrer darauf ansprechen. Das Thema ist topaktuell.

    Mit herzlichem Gruß

    Maria