Unterscheidungsbildung

Versöhnung durch Inhalt – Polarisierung durch Emotion

von | Mai 20, 2024 | Unterscheidungsbildung | 0 Kommentare

Ende April 2024 fand im oberbayerischen Anger ein Gesprächs- und Vortragsabend mit dem Begründer der Nachdenkseiten Albrecht Müller statt. Die sehr gut besuchte und informative Veranstaltung hatte viele interessierte Personen angezogen, die sich für das Friedensthema im allgemeinen und speziell die Entwicklung dieser Frage in Deutschland interessierten. So hieß auch der Titel:

Von „Nie wieder Krieg“ zur „Kriegstüchtigkeit“ – Wie bleiben wir selbständig denkende Menschen?

Albrecht Müller, der als Kind noch Bombardierungen im 2. Weltkrieg erlebte, kam zu dem Schluss, dass nur Menschen, die sich keine Vorstellung davon bilden, was ein Krieg tatsächlich bedeutet, heute von der Notwendigkeit einer „Kriegstüchtigkeit“ Deutschlands sprechen können. Ein besonderes Anliegen war es Herrn Müller, die Entwicklung von unbedingtem Friedenswillen nach dem Krieg, den Aufbau eines Feindbildes gegen Russland in den 50er Jahren, die Ostpolitik Willy Brandts, die der Regierung Schmidts bis hin in unsere Tage von ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen. Leider seien wir aktuell wieder in die 50er Jahre zurückgefallen.

Bemerkenswerte Aussagen von Politikern im Laufe der Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkrieges waren unter anderem:

• „Wandel durch Aussöhnung“ (Willy Brandt und Egon Bahr 1963)

• „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ (Willy Brandt 1969)

• „Deutschland in seiner Mittellage hat Nachbarn, keine Feinde“ (Helmut Schmidt)

• „Frieden in gemeinsamer Sicherheit“ (Grundsatzerklärung SPD 1989)

• „Wirksame Abschreckung ist unsere Lebensversicherung“ (Boris Pistorius Februar 2024)

 

 Wenn ich nur einmal eine Aussage herausnehme, z. B. „Deutschland in seiner Mittellage hat Nachbarn, keine Feinde“ und wenn ich sie ernsthaft durchdenke, wenn ich sie als Ideal denke und weiterbewege, wenn ein Großteil der Bevölkerung sich in diesem edlen Sinne als Deutschland verstehen würde, was könnte das bedeuten?

 

 

 Deutschland als ein Land der guten Nachbarn, als ein Land, das den Frieden und das gute Auskommen mit anderen Ländern als höchsten Wert ansieht. Damit verbunden wäre ein freundschaftliches Interesse an den angrenzenden Ländern, ein Austausch, touristische und wirtschaftliche Begegnungen und Zusammenarbeit. Mit Österreich, der Schweiz, mit Frankreich, Luxemburg und Belgien, mit den Niederlanden, Dänemark, Polen und Tschechien – eine immense Vielfalt an Sprachen, Kulturen und Kulturschätzen. Wenn Kinder schon durch die Haltung ihrer Eltern und Lehrer dieses Grundverständnis von Deutschland als einem Volk der guten Nachbarn kennenlernten, dann würde meines Erachtens Deutschland in einer freien und ehrbaren Haltung und Selbstachtung inmitten dieser Welt stehen. Und es würde diese Haltung auf andere Länder ausstrahlen. Ich bin überzeugt, wenn Einzelne um diese Würde ringen, ist das ein großer Friedensbeitrag.

Es wird immer Stimmen geben, die – wie John Lennon in seinem Lied „Imagine“ ausdrückt – solche Vorstellungen für weltfremd halten. („You may say I am a dreamer, but I am not the only one…“) Die schöpferische Vorstellungs- und Denkkraft von uns Menschen aber macht es möglich, die wünschenswerte Realität gezielt und konkret zu denken und sich mit allen Kräften für eine friedvolle Welt einzusetzen.
So werden wir vom „dreamer“ (Imagine) zum „Denker.“

Als einen solchen „Denker“ sehe ich Herrn Albrecht Müller.
Er sprach und moderierte in freilassender, sachlicher und sehr verbindender Weise. Dieser Abend war für mich ein Übungsfeld in dem Sinne, wie Versöhnung unter den Beteiligten entstehen kann, aber auch darin, wie Beiträge wirken, die emotional aufgeladen sind. Ein älterer Mann führte einige Gedanken zum Thema der „Kriegsmüdigkeit“ aus und schloss mit der Aussage, dass Kriegsmüdigkeit ein natürlicher Zustand des Menschen sein müsste. Diese Worte hatten eine verbindende Wirkung. Auch ein Landwirt, der seit Jahren in freundschaftlichem Austausch mit russischen Landwirten steht, berichtete in perspektiveöffnender Weise von seinen Erfahrungen und regte zu ähnlichen Aktivitäten an. Ein anderer jüngerer Teilnehmer forderte die Anwesenden auf, nicht mehr von „unserer“ oder „meiner“ Regierung zu sprechen, da er mit ihr nicht einverstanden sei. Wieder ein anderer stellte die Behauptung auf, der Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau sei inszeniert gewesen. Aussagen wie diese erzeugten gerade durch ihre emotionale kämpferische Aufgeladenheit eine eher trennende Stimmung, ja eine gewisse Traurigkeit. Herr Müller trat ihnen in einfacher Weise entgegen, indem er sagte, es könne das jeder sehen, wie er meine, er aber könne mit solchen Aussagen wenig anfangen.
Es ist, wie ich an Herrn Müller und einigen anderen Mitwirkenden feststellen kann, letztendlich immer die Person in ihrem Ideal, ihrer Lebenserfahrung und Kompetenz, die auf einer Veranstaltung wie dieser einen bleibenden Eindruck hinterlässt und trotz mancher eilfertiger Rebellionsversuche wie ein ruhiger Fels in der Brandung erscheint.

Eine Erkenntnis meinerseits ist, dass da, wo ein Thema fundiert errungen ist und nach außen kommuniziert wird, auch ein Zusammenwirken und ein Aufbau entsteht. Da, wo kämpferische Bemühungen und Vorschläge zur Gesellschaftsverbesserung, gepaart mit persönlicher Unzufriedenheit aufwallen, entsteht dagegen ein Abbau, eine Trennung und ein Kraftverlust für alle. Der Mensch im Kampf scheint wie verloren und reibt sich auf. Der Mensch im Denken eines Ideals dagegen wirkt wie eine Sonne auf seine Umgebung.

Man kann sich zu Recht fragen, was Herrn Albrecht Müller, der im Mai 86 Jahre alt wird, dazu bewegt, nach einem aktiven Berufsleben unermüdlich bis zum heutigen Tag für den selbstbestimmten und selbstdenkenden Menschen einzutreten, aufzuklären und Begegnung und Austausch zwischen Menschen und Ländern zu fördern. Und dies auf wohltuend ruhige und besonnene Weise. Chapeau!

 

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