Unterscheidungsbildung

In die Tiefe der Worte gehen

von | Apr. 17, 2024 | Unterscheidungsbildung | 0 Kommentare

Es ist ganz besonders auf dem Gebiet der Spiritualität von großem Wert, wenn wir einen Begriff in seiner Tiefe ergründen und erfassen, da wir sonst oft aneinander vorbeireden. Jemand spricht von Meditation, meint aber etwas anderes als zehn weitere Personen, die jeweils auch unterschiedliche Vorstellungen von Meditation und deren Praxis und Zielrichtung haben. Oder von Liebe, von Energie und Chakren. Die Missverständnisse sind groß, wenn wir nicht zuvor unsere Begriffe klären und auch anderen erklären können.

Die Übung, die ich nun vorstelle, hat darüber hinaus noch einen weiteren Sinn: Ergründe ich einen Begriff tiefer, werde ich selbst in meinem Bewusstsein lebendiger und bewege mich näher hin zum inneliegenden Gehalt und ureigenen Klang des Wortes. Fast so, wie wenn ich ein Möbelstück reinige, vom Staub befreie und es in seiner Schönheit neu erstrahlen kann.

Nehmen wir das Wort „Verbindung“.

Man kann es auf ein Papier schreiben oder an eine Tafel und einige Zeit ruhig betrachten, ihm Raum geben.

Verbindung

  1. Wie wird dieser Begriff ganz allgemein gebraucht?

Es gibt eine Telefonverbindung, eine chemische Verbindung, in der Technik eine Verbindung von zwei Kabeln und auch eine Zugverbindung und eine Verbindungsstraße. Am Handy merken wir, wenn wir eine schlechte Verbindung haben. Es gibt also eine Seite, die technisch, naturwissenschaftlich ist.

Verbindungen gehen auch Menschen ein, sie können glücklich sein oder unheilvoll. In den Burschenschaften hat sich der Begriff einer „schlagenden Verbindung“ gebildet. Wir kennen geschäftliche und berufliche Verbindungen.

Das Wort rückt noch näher, wenn wir sein Gegenteil beschreiben, das wäre die Trennung, die Isolierung, die Entzweiung oder Spaltung.

  1. Ein weiterer Schritt in dieser Übung ist nun die mehr seelische, beziehungsvolle Seite des Wortes herauszuarbeiten

Was den positiven Aspekt des Begriffes betrifft, kann man zu der Einsicht gelangen, dass Verbindung einem Urbedürfnis des Menschen entspricht, in sozialer und seelischer-geistiger Hinsicht. Verbindung scheint eine Ureigenschaft der menschlichen Seele zu sein. Man könnte sie beschreiben als die Freude eines Ganzseins. Bekannt ist auch die gedankliche Verbindung, die zwischen zwei Menschen bestehen kann und die diese pflegen. Und noch weitere Fragen eröffnen sich, z. B. ob wir Menschen als Grundlage unseres Lernens und unserer Entwicklung nicht auf das Herstellen von Verbindungen angewiesen sind. Gibt es eine Entwicklung in der Trennung?

Eine negative Seite erfährt der Begriff der Verbindung, wenn es sich um einen emotional gefärbten Verbindungswunsch handelt. In der Emotion bleibt der Einzelne bei sich und wünscht sich aber sehr Verbindung, sie kann dann leicht in Bindung und Abhängigkeit umschlagen oder sich in einem  willentlich-zwanghaften Verbunden-Sein-Wollen äußern. Das naturgegebene Bedürfnis eines jeden Menschen nach Verbindung kann unter diesen Umständen schnell zu einem oberflächlichen und illusionären Einheitsgefühl werden.

Auch das Verb, aus dem der Begriff hervogegangen ist, verdient eine Betrachtung. „Verbinden“ ist eine Tätigkeit, die „Verbindung“ ist das, was aus der Tätigkeit des Verbindens als Resultat entstanden ist. Etwas zusammenführen, aber auch einen Verband anlegen, das wären die ersten Gedanken, die uns beim Tunwort „verbinden“ einfallen. Es gibt Menschen und eine Art der Sprache oder des Verhaltens, die eher verbindend wirken, es gibt aber auch Menschen und Haltungen, die eher trennende Gefühle hervorrufen. Im „Verbinden“ scheint sich viel mehr zu verbergen, eine Fähigkeit, vielleicht sogar eine Kunst, die der Einzelne erlernen kann.

Etymologisch finden wir unter „Verbindung“ die Begriffe „Zusammenhang“, „enge Beziehung“, „Vorgang des Verbindens“ und im 15. Jahrhundert bedeutete Verbindung „Verpflichtung.“ Die Herkunft der Begriffe in diese Übung miteinzubeziehen, eröffnet nach meiner Erfahrung oft eine ganz neue Sichtweise. Hier beispielsweise sehen wir, dass vor einigen Jahrhunderten Verbindung weniger passiv gesehen wurde, sondern mit „Verpflichtung“ einen recht aktiven Beiklang hatte.

Und noch einen weiteren Schritt können wir gehen. Wo wird in Literatur, in Filmen, in Philosophie von Verbindung gesprochen, finden wir vielleicht einen Menschen, der dieses Thema behandelt oder in seinem Lebenswerk ausgedrückt hat?

Mir fällt in diesem Zusammenhang eine Szene aus dem Film des Regisseurs Werner Herzog ein -„Jeder für sich und Gott gegen alle“ über das Leben von Kaspar Hauser.

Kaspar Hauser (1812 – 1833), der in völliger Isolation aufwachsen musste und dann plötzlich hinaus ins Leben gestellt wird und dort erst gehen, sprechen etc. lernen muss, darf einige Zeit bei einer Familie leben, die ihn wohlwollend aufgenommen hat. Er betrachtet den Säugling in der Wiege, berührt ihn leicht mit der Hand, die Mutter sieht die Geste und drückt ihm das Kind in den Arm, er könne es ruhig einmal halten. Kaspar Hauser wird von einem Gefühl übermannt, das er, während ihm Tränen über die Wangen laufen, mit den Worten ausdrückt: „Mutter, ich bin von allem abgetrennt.“

Nehmen wir zu dieser Szene eine geisteswissenschaftliche Betrachtung Rudolf Steiners hinzu.

„Wenn Kaspar Hauser nicht gelebt hätte und gestorben wäre, wie er tat, so wäre der Kontakt zwischen der Erde und der geistigen Welt vollkommen unterbrochen.“

Hier spricht Rudolf Steiner von einem Menschen, der – sein Schicksal ist bekannt – Unsägliches leiden musste, aber eine überragende Fähigkeit des Verbindens in sich trug, und dies weit über menschliche, soziale Verbindungen hinaus.

  1. Die Erfüllung des Wortes

Ein letzter Schritt in unserer Übung, die uns in die Tiefe eines Begriffe führt, wäre, eine geistige oder spirituelle Bedeutung des betrachteten Wortes herauszuarbeiten. Nach allen vorangegangenen Überlegungen und Erkenntnissen kann man sich an diese herantasten.

Ich drücke sie hier mit diesen Worten aus :

Verbindung ist ein Ergebnis von seelischer Regsamkeit des Menschen. Sie entsteht durch ein nach außen, zu einem Objekt, einer Naturerscheinung oder einem Menschen gerichtetes Interesse, welches von Einfühlungsvermögen begleitet ist. Verbindung muss der Mensch kontinuierlich herstellen und sie schenkt ihm das freudige Empfinden eines natürlichen Eingebettetseins in seine Umgebung. Der Einzelne erfährt sich seelisch weit ausgedehnt und in einer gesunden Mitte als Bürger der irdischen und geistigen Welt.“

Ich empfehle diese Seelen- oder Bewusstseinsübungen allen, die im Bewusstsein regsam werden wollen. (1) Sei es, weil ein Interesse an Sprache allgemein besteht, weil ich eine bessere Kommunikationsfähigkeit erlernen will oder mich auch tiefergehend mit einem Thema auseinandersetzen will. Es ist erfahrungsgemäß eine Freude, diese Übung mit mehreren Personen gemeinsam zu erarbeiten und durchzuformen.

 

(1) Diese Seelenübung ist dem Buch „Übungen für die Seele“ des Autors Heinz Grill entnommen. 

 

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